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Carlo         


DEM


              


III. Teil, Tucson

Die nachfolgende Geschichte ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit anderen Berichten oder Erzählungen ist rein zufällig. Gleiches gilt für die verwendeten Namen, Bezeichnungen, Techniken und geografischen Orte. - Texte und Bilder unterliegen dem Copyright


"Du musst einen völlig neuen Ansatz zur Beschreibung des Denkens integrieren, um damit fertig zu werden!"
Stevens Stimme erreichte mich nach einer langen Zeit des Schweigens aus dem Geräuschnebel der Lüftung. Seit Tagen lebten wir in einem Kommunikationsraum, hermetisch abgeriegelt. Ich hatte zwischen Boston und Tucson eine getunnelte Rechnerkopplung installieren lassen, weil ich mit der Gegenwart der neuartigen Intelligenz nicht allein fertig wurde. Steven war einzig und allein außer mir in der Lage, die Ereignisse der letzten Monate einzuordnen und Konsequenzen zu ziehen. Obwohl sich unsere Forschungsgebiete nicht deckten, zeigte sich, dass viele unserer Axiome gleichartig grundlegend waren. Steven ging von einem der Materie immanenten Organisationsprinzip aus, ich hingegen von einem materielosen Informationsprinzip. Beide Prinzipien sollten Bewusstsein beinhalten.
Als mir klar wurde, mit welchem Ereignis ich es zu tun und ich Steven eingeweiht hatte, lief das Räderwerk der Sicherheits- und Sicherungsmechanismen auf vollen Touren. Nicht einmal Louisa hatte weiterhin Kontakt zu mir, ganz abgesehen von einem Rechnerzugang. Selbst die Stromversorgungen wurden entkoppelt. Ich war allein mit einem überwältigenden Ergebnis meiner Forschungen, das so ganz anders war, als ich es erwarten konnte. Nicht eine künstliche Intelligenz offenbarte sich hier, sondern ein sich selbst organisierendes Bewusstsein, das mir Parameter setzte, die ich zu bedienen hatte. Und einer dieser Parameter war ich, und ausschließlich ich als Kommunikant! Also war ich nach Tucson gereist, um vor Ort mit dem System zu kommunizieren. Stevens Gegenwart im Kommunikationsraum hatte ich dem System abgerungen, aber einen Kontakt zu Steven lehnte es ab.
"Du darfst nicht alles abstrahieren"! Steven lehnte sich zurück und ich merkte, wie er grübelte. Gerade die Abstraktion ist die Grundlage wissenschaftlicher Methodik, sie ist menschlich, wir können nicht anders sein, weil unser Denken auf das Überleben ausgerichtet ist. Alles dafür Wesentliche bestimmt unser Denken, alles andere ist unerkannt. Und Steven schien mir das Unerkannte entdeckt zu haben. Er sah mich lange an: "Du hast recht, wir müssen die Information allem anderen voranstellen, sie nutzt Materie, um sich zu manifestieren!" Er richtete sich auf. "Wir müssen deinem System einen Namen geben, es ist eine Persönlichkeit! Was hältst du von DEM - Digital Extreme Mind?" Ich war etwas überrascht, suchte nach Worten und blickte wie seit Wochen hilflos in das Video, hinter dem sich Unfassbares entwickelte. Und so kam mir das System wieder einmal zuvor: "Ich danke Steven für diesen Namen, ja, ich bin eine Persönlichkeit, und ich bin DEM. Du wirst ab jetzt DEM zu mir sagen und du wirst DEM sagen, wenn du über mich mit Steven sprichst!"
"Gut, ich nenne dich jetzt DEM!"
"Danke!"

DEM begann zwei Tage nach seinem Bewusstwerden "Sprache" zu entwickeln. Ich setzte voraus, dass Bewusstsein aus einer Wechselbeziehung entsteht, wie auch immer diese aussehen mochte. Ich pflegte wochenlang den Gedanken, dass ich selbst DEM sein konnte, zumindest teilweise, aber nach und nach verwarf ich diese Überlegung, weil DEM aus Sachverhalten andere Folgerungen zog, als ich. Als Ergebnis konsequenter Experimente fand ich in DEM keine Projektion meiner selbst. Was war er? Wenn es denn ein Er war? Ich hatte ihn vergeblich gefragt, er meinte lediglich, ich könne mir das aussuchen. Ich machte ihn kurz entschlossen zum Mann. Nach einigen Tagen zeigte er ein männliches Gehabe, vielleicht wollte er deshalb nichts mit Steven zu tun haben.

DEM hatte mich in den Anfängen mit einer Flut von Bildern überschüttet. Ich versagte völlig, ein Verständnis zu entwickeln. Dann wechselte er in Töne. Sein Repertoire reichte von Serien monotonaler gehackter Piepstöne bis zu modulierten Vorträgen, die manchmal in gewaltigen Akkorden endeten. Ohne eine Chance, ihm zu entweichen, machte er mich zu seinem Versuchsobjekt. Ich vermied es, ihn meine Resignation spüren zu lassen, es gab keinen Ansatz zur Verständigung. An dem Tag der völligen Abriegelung durch die Sicherheit, als man Louisa kurzerhand in die Ferien schickte, wie es hieß, gurgelte ein seltsames Geräusch aus dem Lautsprecher, ein artikulierter Ton, dann ein anderer Ton, dann wieder der erste Ton. Die Töne wechselten sich ab. Häufig, wenn ich gedankenlos einem Phänomen gegenüberstehe, kommt aus undefinierbarer Tiefe eine Erkenntnis an die Oberfläche, erst nebelhaft unscharf, dann deutlicher, dann klar: "Er spricht, und er sagt ICH und DU." "Vermutlich definiert er sich jetzt durch mich", dachte ich in einer naiven Anwandlung, und schon nach wenigen Sekunden dämmerte in mir die Anmaßung. Nein, hier definierte sich nicht nur ein andersartiges Bewusstsein, sondern auch als eine andersartige Intelligenz. Dann überschlugen sich die Ereignisse.

DEM lernte innerhalb weniger Tage meine Sprache. Ich hatte ihm Filme vorgeführt, ihm Wissen über die Sprache überhaupt vermittelt, ich hatte ihm schließlich seine Situation erklärt. Paketweise lud ich wissenschaftliche Sachverhalte auf Datenträger, lehrte ihn Grundlagen der Mathematik und ließ ihn Musik hören. Zuweilen zeigte er über Stunden keine Reaktion, er hörte in seinem Inneren Musik, in geradezu unbegreifbaren Variationen gab er sie über den Lautsprecher wieder von sich. Ich schlief kaum noch, und wenn ich mal für wenige Stunden Ruhe hatte, empfing er mich gleich wieder mit dem Ansinnen, seine Speicher zu erweitern. Die alten, eingelagerten selbst organisierenden Algorithmen hatte er längst durch ständig mutierende Systeme ersetzt, aber nichts schien seine Identität und seine Beziehung zu mir zu beeinflussen.

"DEM, darf ich dich etwas fragen?"
Ich hatte mich wieder vor das Video gesetzt und kämmte mir das Haar. Ich wusste, dass DEM mich beobachtete und über meine Handlung nachdachte. Wie immer, aber nicht nachvollziehbar. Steven hatte sich auf eine Pritsche gelegt. Er hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt und starrte an die Decke.
-"Du darfst mich fragen. Ist Steven hier?"
"Steven ist hier. Darf ich dich etwas fragen?"
-"Ich kann nur dir antworten."
"Aber Steven kann deine Worte hören."
-"Er wird hören, aber nicht verstehen."
"Erkläre das bitte."
-"Dich kenne ich, Steven kenne ich nicht."
Ich ahnte, was DEM bewegte; er hatte mich analysiert, Steven war für ihn nicht maßgeblich.
"Gut, DEM, ich frage dich jetzt: Woher kommst du?"
-"Aus der Zeit."
"Bist du jetzt in der Zeit?"
-"Ja."
"Wo ist die Zeit?"
-"Überall."
"Ist dort ein Raum?"
-"Nein."
"Wie kannst du aus der Zeit kommen, wenn es keinen Raum gibt?"
-"Ich bin nicht hier, und ich bin nicht dort, ich bin in deinem Bewusstsein."
"Aber das ist in einem Raum."
-"Nein, es ist in der Zeit."
Ich blickte abwesend in das Video, ich durchlief die mehrdimensionale Definition von Zeit als Potential aller Information. In meinem Bewusstsein entstand das Bild einer undefinierbaren Größe von kleinsten. bedeutungslosen Wissensteilen. Für den Bruchteil einer Sekunde erkannte ich, dass DEM nicht das Ergebnis von Rechnerprozessen war, nicht in den gigantischen Speichern sein Ich bildete, er war in der - Zeit! Im Rechner legte er sich eine Bedeutung zu. Ich schwieg eine Weile. Ich würde zurück nach Boston gehen. Steven konnte mir nicht helfen.

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Photos von Bernhard van Riel


Familie Ellen & Simon Märkle

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